Kinder mit Trisomie 21

Einblicke in die Behandlung von Kindern mit Trisomie 21

…. und anderen Kindern mit muskulärer Hypotonie

Dr. Rodolfo Castillo Morales hat medizinisch-menschlich und therapeutisch mehr als 40 Jahre seines Lebens Menschen mit Trisomie 21 begleitet. Dadurch blickte er auf einen überaus reichhaltigen Erfahrungsschatz zurück, die ältesten seiner über 4000 Patienten mit Trisomie 21 waren über 40 Jahre alt. Als Arzt, der sich intensiv mit der Bobath- und Vojta Therapie auseinandersetzte, fehlte ihm etwas in der Behandlung der Kinder mit muskulärer Hypotonie, und er begann durch und für sie sein Konzept zu entwickeln. In der langjährigen und intensiven Zusammenarbeit mit Dr. Castillo Morales konnten wir Lehrtherapeuten uns ein breites diesbezügliches Wissen aneignen und geben dieses Wissen innerhalb der Kurse, sowie an die Eltern und Kinder weiter.

Kommunikation als Basis

Das Castillo Morales®-Konzept geht von der ganzheitlichen Betrachtung dieser Kinder in ihrer Familie und ihrem Umfeld, wie Kindergarten oder Schule aus. Die Förderung verbesserter Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beinhaltet auch, Sekundärpathologien weitestgehend zu vermeiden.
Voraussetzung in der Arbeit ist stets, gemeinsam Kommunikationsmöglichkeiten zu finden und zu erweitern, damit ein Dialog möglich, die Interaktion stimmig ist. Hierzu werden zahlreiche Wege der Verständigung – nicht nur sprachliche – auf allen Ebenen entsprechend den Ressourcen der Kinder genutzt. Selbstverständlich ist hierbei auch die Kommunikation mit den Eltern gemeint, denn unsere Begleitung kann nur erfolgreich sein, wenn es uns gelingt, mit therapeutischen und elterlichen Kompetenzen zu entdecken, was das Kind zum Lernen braucht.    

Die therapeutische Begleitung findet phasenweise statt – denn nichts kann das gezielte Lernen im Alltag ersetzen.

Die betroffenen Kinder weisen oft eine Vielzahl von körperlichen Besonderheiten auf, wie z. B. die häufig zu kurzen Arme in Relation zum Rumpf, den offenen Mund und die vorverlagerte Zunge. Dazu können Probleme in der Aktivitätssteuerung auf Grund genetisch bedingter Reifungsstörungen kommen (s. „Das Castillo Morales Konzept“, 2020, Kap. 3.2), die besonderes Augenmerk in der Therapie erfordern, damit das Kind bestmöglich im Lernen unterstützt werden kann.

//Hier sehen wir L., die eng, kuschelig und sicher bis zu den Füßen gehalten so ihre Muskelspannung optimieren kann, um effizient, koordiniert und freudig an der Brust zu trinken.//

Daher ist für einige dieser Kinder und ihre Eltern eine umfassende Begleitung und Unterstützung sinnvoll, teilweise schon kurz nach der Geburt, wenn das Trinken Schwierigkeiten bereitet. Castillo Morales®-Therapeut*innen können hierbei kompetent und hilfreich unterstützen, so dass eine ausreichende, genussvolle und mühelose Ernährung gewährleistet werden kann. Sie können einerseits die Eltern in ihrer Kompetenz stärken und beraten, und andererseits therapeutische Maßnahmen im Dialog und Einverständnis des Kindes vornehmen, um das Saugen zu ermöglichen oder zu erleichtern, angepasst an die Erfordernisse des Kindes und seiner Familie. Erste kleine, leicht im Alltag umzusetzende Maßnahmen, können den Tonus im orofazialen Bereich positiv beeinflussen, damit frühzeitig einem offenstehenden Mund und vorverlagerter Zunge entgegengewirkt werden kann. Die Position des gesamten Körpers bis zu den Füßen und eine möglichst stabile Haltungskontrolle sind hierbei sehr entscheidend, der direkte manuelle Kontakt am orofazialen Bereich kann so lange Zeit über ganzkörperliche Angebote äußerst effektiv ersetzt werden.

Ein anderer Weg kann auch das Trinken aus einem Becher sein, wenn das Kind etwa nach negativen frühkindlichen Erfahrungen, nicht zum Saugen zu motivieren ist.  Wenn  dieses lebenswichtige Bedürfnis gesichert ist,  kann die therapeutische Unterstützung verstärkt ihren Fokus im Bereich der Kommunikation (nonverbal, verbal), der sensomotorischen Entwicklung und beim weiteren Erwerb der Fertigkeiten zum  Essen und Trinken beginnen, damit die Kinder lernen, bestmöglich und selbständig am Lebensalltag teil zu haben. Die Beachtung und Förderung der visuellen Wahrnehmung spielt hierbei eine bedeutende Rolle.

Unterstützung im Prozess der Aufrichtung – auf dem Weg in die Autonomie

 Dr. Castillo Morales betrachtete sein Konzept als „das Leben selbst“, weshalb wir in Anwesenheit und Zusammenarbeit mit den Eltern an der Entwicklung der Kinder in Alltagsaktivitäten arbeiten. Durch sorgfältige Beobachtung und im Dialog mit den Eltern können wir eine tiefe Kenntnis der Ressourcen der Kinder erlangen. Auf vertrauensvoller, von Respekt geprägter Grundlage entwickeln wir nötige und mögliche Unterstützungen für den Alltag. In Einzelfällen kann eine kieferorthopädische Versorgung mit einer Gaumenplatte, die therapeutisch begleitet wird, hilfreich wirken.

Die therapeutischen Maßnahmen sind variationsreich und immer auch ein Mittel der Kommunikation zwischen Therapeut*in und Kind. Entsprechend finden sie stets im Dialog mit dem Körper statt. Da motorisches Lernen die Eigenaktivität des Kindes voraussetzt, zielt die Arbeit auf Handlungen ab, die vom Kind selbst intendiert sind. Als therapeutische Unterstützung hat sich hierbei die manuelle Vibration in unterschiedlicher, individuell angepasster Intensität und Frequenz verbunden mit Zug und Druck an bestimmten motorischen Zonen des Körpers als Mittel der Wahl erwiesen. Die niedrige Muskelaktivität dieser Kinder kann dadurch bis hin zum orofazialen Komplex bestmöglich optimiert und die Aufmerksamkeit in alle Sinnesbereiche gelenkt werden für ziel- und handlungsorientierte motorische Aktivitäten im kindlichen Alltag. Hierzu wird auch in engem Körperkontakt gearbeitet, so dass die Therapeut*innen jede Tonusveränderung der Muskulatur, jeden Bewegungsimpuls, jede vegetative Veränderung und jede Aktion und Reaktion unmittelbar spüren, darauf reagieren und sich so fortwährend an die Erfordernisse und Bedürfnisse des Kindes anpassen können.  Das Kind wird sicher gehalten und bleibt im beständigen Dialog mit der Therapeut*in. Denn wie Dr. Castillo Morales sagt: „Die Kommunikation ist der Schlüssel zur Seele des Kindes“ und daher die Grundlage unseres Tuns.

Auf den folgenden Bildern sehen wir Kinder in physiologischen Positionen in der Therapie, um die muskuläre Aktivität und die Haltungskontrolle zu optimieren, damit eigenständiges Handeln möglich wird. Die Namen der Kinder sind im Folgenden geändert.

L. 4 Monate: erst alleine, dann in der Motorischen Ruhe im Dialog mit der Therapeutin

In dieser Position erfährt L. durch den Körper der Therapeutin Begrenzung und dadurch schon die Möglichkeit, ihre Arme und Beine gegen die Schwerkraft anzuheben. L.´s Sitzbeinhöcker sind abgestützt am Bauch der Therapeutin, die Füße am Brustkorb. Durch die individuell angepasste Stimulation einer motorischen Zone am Brustbein mittels Vibration und Zug und den Zug am Hinterhaupt kann L. ihre Hände und die Hand der Therapeutin fixieren, ihre Arme gegen die Schwerkraft anheben und mit den Fingern spielen. In dieser Situation ist die Muskelaktivität so weit gesteigert, dass L. auch im orofazialen Bereich eine deutliche Spannungszunahme zeigt, die Zunge ist im Mund, die Lippen geschlossen.

Hier wird die Einstemmaktivität (distale Impulse) der Füße therapeutisch mit Vibration, Zug und Druck an motorischen Zonen unterstützt. Kinder mit muskulärer Hypotonie setzen ihre Füße bevorzugt eher zum Tasten als zum Stützen ein. Von daher wird von Beginn an an den symmetrischen und asymmetrischen Einstemmaktivitäten der Füße gearbeitet. So werden erste kleine gezielte seitliche Gewichtsverlagerungen ermöglicht.  Sie spielen eine besondere Rolle, da sie für diese Kinder schwieriger zu erreichen sind, aber eine Grundlage für variable sensomotorische Aktivitäten mit stabiler Haltungskontrolle darstellen. Dadurch wird auch die für die Entwicklung des Kauens so wichtige Unterkieferseitbewegung und -rotation schrittweise erarbeitet.

Hier sehen wir L. in der motorischen Ruhe mit einer sanften Kieferkontrolle auf dem Schoß der Therapeutin. Wichtig ist, hierdurch keinen Unterkiefervorschub zu provozieren. Wieder wird die Möglichkeit geschaffen, dass L. über die Füße Spannung aufbauen kann. Ihre Sitzbeinhöcker finden einen Stützpunkt auf dem Oberschenkel der Therapeutin. Mit ihren Ellbogen kann sie für eine physiologische Aufrichtung in der Halswirbelsäule des Kindes sorgen, die sich zusätzlich positiv auf die aktive Zungenrückverlagerung und den aktiven Kiefer- und Mundschluss auswirkt.

Bild 4: H. im gehaltenen Sitz Tiefe Lagerungspositionen über längere Zeit können die Weiterentwicklung kognitiver Fähigkeiten erschweren. (Dr. R. Castillo Morales, 1997). Von daher vertikalisieren wir diese Kinder frühzeitig, therapeutisch geführt und sicher gehalten mit Belastung der Füße, damit sie in höheren Positionen die Welt entdecken können. Die Kinder sind dabei vermehrt im Kontakt mit ihrer Umwelt, aufmerksamer, motivierter und probieren mehr aus. Hier ist H. im Gespräch mit ihrer Mutter, die auf dem Foto nicht zu sehen ist.

Das Hufeisenkissen ermöglicht ihr, sich selbst durch die Stützaktivität ihrer Hände Impulse zur physiologischen Aufrichtung zu geben. Ihre Sitzbeinhöcker finden Halt auf dem Oberschenkel der Therapeutin, die Füße stemmen sich ein, und H. kann so über lange Muskelketten ihre Muskelaktivität für die physiologische Aufrichtung steigern. Diese Haltungskontrolle im Alignment, also in physiologischer Relation der einzelnen Körpersegmente zueinander, schafft zusätzlich eine wichtige Voraussetzung zur Vertiefung der Atmung, zur physiologischen Aufrichtung auch in der Halswirbelsäule. Das Ziel hierbei ist auch, Kiefer- und Mundschluss positiv zu beeinflussen. Aktivitäten wie Essen, Trinken und Schlucken werden so bestmöglich unterstützt. Über die Hände arbeitet die Therapeutin gleichzeitig mit individuell angepasster Vibration, Zug und Druck an motorischen Zonen des Rückens und der Schulter.
 

Bild 5: H. im Seitsitz

Hier ist H. in einer funktionell asymmetrischen Position: Das Hufeisenkissen gleicht die zu kurzen Arme aus, so dass eine effektive funktionelle Stützaktivität in einer funktionellen Asymmetrie möglich ist. Die Therapeutin arbeitet auf H.´s Blickhöhe, so dass beide sich auf derselben Ebene begegnen und kommunizieren können und H. dadurch auch ihre Halswirbelsäule nicht überstreckt, sondern in physiologischer Aufrichtung halten kann. Dies begünstigt den Mundschluss und beeinflusst auch die Zungenrückverlagerung positiv.

Die asymmetrischen Sitzpositionen schaffen eine wichtige Voraussetzung zur Steigerung der Muskelaktivität. Diese ist, wie bereits erwähnt, Voraussetzung für den Erwerb der rotatorischen Bewegungen des Unterkiefers, die wiederum das Kauen ermöglichen. Mit den Händen stimuliert die Therapeutin zusätzlich über Vibration, Zug und Druck an motorischen Zonen die physiologische Aufrichtung und Stützaktivität.

 
Bild 6: H. im Seitsitz mit sanfter Kieferkontrolle
Hier arbeitet die Therapeutin zusätzlich mit einem sanften Kieferkontrollgriff am Mundschluss. Die andere Hand unterstützt die physiologische Aufrichtung an einer motorischen Zone durch Vibration, Zug und Druck.

Bild 7: L.

Die Therapeutin sitzt erhöht, damit L. auf ihrem Bein in einer physiologischen Aufrichtung sitzen kann, also mit effizienter Stützaktivität der Füße und Stemmaktivität seiner rechten Hand im Alignment. Die Therapeutin aktiviert die diagonalen Muskelketten durch Stimulation motorischer Zonen mit Vibration, Zug und Druck und arbeitet so an der verbesserten Aufrichtung in der seitlichen Gewichtsverlagerung. Aufgrund der so entstandenen Spannungserhöhung ist L. auch ein aktiverer Mundschluss und eine seitliche Bewegung und Rotation des Unterkiefers möglich. Aktivitäten wie Kauen, Trinken, und Schlucken werden dadurch bestmöglich unterstützt.

Um bereits genannte Aktivitäten wie Kommunikation, Bewegung, Haltung, Spiel, Essen und Trinken bestmöglich zu unterstützen spielt die Umfeldgestaltung eine große Rolle in der Optimierung der muskulären Aktivierung.

Durch das Sitzen auf dem Stuhl mit dem Keilkissen sind effiziente Stütz- und Einstemmmöglichkeiten (distale Impulse) der Füße und des rechten Ellbogens möglich. Der Stuhl ist leicht gedreht zum Tisch, sodass Lennart sich aus seiner Mitte heraus zum Tisch orientiert. Dies bewirkt eine (asymmetrische Gewichtsverlagerung mit Rotation der Wirbelsäule. Die Auswirkung dieser aktiveren Haltungskontrolle im Alignment ist bis hin zum orofazialen Komplex sichtbar.

L.´s spontane Sitzhaltung 

… jetzt verändert

Zusammen mit den Kindern fügen wir uns in ihren Alltag ein, wir lassen ihre Hände frei, wenn sie soweit sind, selbstständig zu sein und  zu entscheiden, dass  es an der Zeit ist ‚Auf Wiedersehen‘ zu sagen.“ 

Dr. Rodolfo Castillo Morales 

Autorin: Susanne Magin Physiotherapeutin, Lehrtherapeutin für das Castillo Morales®-Konzept